Entstehung des Stammesnamen „Schinderhannes“

(von Fritz Krupp (Tatt)

Im Jahr 1959 als der Stamm noch Königsadler hieß, befassten wir uns mit der Geschichte

der Jugendbewegung. Wir wurden gewahr, dass es in unserem Bund Deutscher Pfadfinder

zwei Wurzeln und darauf basierend zwei Auffassungen darüber gibt, wie man Jugendbünde

führt. Eine Richtung huldigte dem Führerprinzip und wurde als „Scoutistisch“ bezeichnet.

Die andere Richtung forderte Eigenverantwortung der Gruppenmitglieder und wurde mit dem

Wort „Bündisch“ belegt. Wir in Kronberg fühlten uns als bündische Jugend. Wir lasen

Literatur über die Geschichte der Jugendbewegung insbesondere über die Verfolgung

der Jugendbünde durch die Nationalsozialisten. In diesem Zusammenhang stießen wir auf

den Nerother Wandervogel und auf das Schicksal der Brüder Oelbermann. Wir begriffen, was

sich dahinter verbarg, wenn wir das Lied von den Rheinischen Vandalen sangen, die auf Burg

Waldeck raufen und saufen. Wir wollten mit den Nerothern in Kontakt kommen. Also fassten

die Clochards den Entschluss zum Jahreswechsel 1959 auf 1960 Burg Waldeck aufzusuchen.

Mit dem Zug fuhren wir per „Viehschein“ über Koblenz nach Burgen an der Mosel. Von dort

tippelten wir durch das Baybachtal zur Burgruine Waldeck. Es war bitter kalt und die Ruine

war verwaist. Aber auch im nahe gelegenen Säulenhaus waren keine Nerother zu finden. Das

Haus war bevölkert mit Kindern, die auf Einladung der „Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck“

(ABW) dort eine Ferienfreizeit verbrachten. Diese Art der Jugendpflege war nicht das, was wir

hier erwartet hatten. Der einzige Hort des Bündischen war die verwaiste Kanzlei des Nerother

Wandervogels. Hier hatte sich ein katholischer Priester mit Namen Bruno eingenistet, der uns

immerhin ein Nachtquartier anbot. „Bei mir könnt Ihr immer unterkriechen“. Wir ahnten nicht

dass er das wörtlich meinte. Zunächst wollten wir an der im Saal unter dem Dach des

Säulenhauses vorgesehenen Silvesterfeier teilnehmen. Angetan mit unseren

Jungenschaftsblusen, zwei Gitarren und sechs sangesfreudigen Kehlen betraten wir

den Saal. Die Absicht, uns mit einem Lied vorzustellen, verfing nicht so recht. Man tuschelte

und die Körpersprache einiger Damen signalisierte Ablehnung. Ältere Herren versuchten zu vermitteln. Das Blut rebellierte in unseren Adern. Wir sangen weiter. Die Liedertexter wurden immer rebellischer. „Was geh’n Euch meine Lumpen an..“ u.s.w. „Singt doch mal was Lustiges !“ Also sangen wir das Frankfurter Lied: „ Die Frau Rauscher aus de Klappergass“. Eine der Damen fühlte sich offensichtlich persönlich getroffen und sagte „Müssen wir uns das antun? Nun ist es genug, raus hier“. So verließen wir unter Absingen weiterer rebellischer Lieder die Silvesterfeier der ABW. Auf der Suche nach einem Kothenplatz fanden wir ein kleines Steinhaus, genannt „Das Nest“. Dort lag eine gemischte Gruppe aus dem „Wandervogel Deutscher Bund“ im Quartier. Man nahm uns gastlich auf und feierte uns ob unseres Auftritts im Säulenhaus als Helden. Die Wandervögel klärten uns auf, über die Fronten und die Auseinandersetzungen zwischen „Oelbs Nerothern“ und der ABW. Danach sangen wir mit den Jungen und Mädchen bis spät nach Mitternacht viele Lieder aus unserem gemeinsamen Liedgut. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wollten wir mitten in der Nacht unsre Kothe nicht mehr aufbauen und baten bei Bruno um Nachtquartier. Er nahm uns auf, aber wir kamen nicht zur Ruhe. In der verbleibenden Nacht versuchte er immer wieder auf unsere Stockbetten zu klettern, sich an uns zu schmiegen und an uns herumzufummeln. Angewidert verließen wir früh am Morgen das ungastliche Quartier und stiegen hinab ins Baybachtal. Bei eisigem Regen erreichten wir das Gasthaus “Schmausenmühle”. Die Stimmung war gedrückt. Rolf bestellte sich einen Kaffee, wir anderen wollten Frust und Ärger mit einem Bier wegspülen. Wir gönnten Rolf den Kaffee nicht und in einem günstigen Moment schüttete einer von uns Bier in die Kaffeetasse. Was als Scherz gemeint war, geriet in der schlechten Stimmung zu einem Riesenkrach. Bedrückt marschierten wir weiter durch das Baybachtal. An einem Kruzifix machten wir Rast. Eine verwitterte Inschrift tat kund, dass hier vor langer Zeit eine Kutsche vom hohen Fels tief in das Baybachtal hinabgestürzt war und alle Fahrgäste in den Tod gerissen hatte. Dieses “Memento Mori” stimmte uns nachdenklich. Das Leben ist zu kurz und zu schön um miteinander im Streit zu leben. So waren wir alle geneigt, uns wieder zu vertragen. Numa holte aus seinem Rucksack eine Flasche Kronberger Obstbrand und wir stießen auf ewige Freundschaft an. Er gestand uns, dass er sich in der vergangenen Nacht in eins der Mädchen vom Wandervogel verliebt hatte. Zum Zeichen seiner Sympathie schnitzte er den Namen „Ilka“ in den Hals seiner Gitarre. Über diesem Thema vergaßen wir die nächtlichen Erlebnisse mit Bruno. In guter Stimmung marschierten wir weiter. Wegen des heftigen Regens führte der Baybach sehr viel Wasser und mehrmals mussten wir Schuhe und Strümpfe ausziehen und durch das eisige Wasser waten. Am späten Nachmittag erreichten wir den an der HunsrückhoÅNhenstrasse gelegenen Ort Emmelshausen. Frierend und durchnässt wie wir waren, wollten wir bei einem Bauern um Quartier bitten. Als wir aus einem Gasthaus den Lärm einer feuchtfröhlichen Feier hörten, gedachten wir die Feierlaune der Zecher zu nutzen, um uns etwas aufzuwärmen und dann nach Quartier zu fragen. Wir betraten die Kneipe und stimmten sogleich ein Lied an. Im Gegensatz zu den Spiessbürgern im Säulenhaus, bei denen wir am Vorabend nicht angekommen waren, fanden wir bei den Feiernden in der Kneipe eine begeisterte Aufnahme. Stühle wurden für uns an die Festtafel gestellt und alsbald waren wir als wohlgelittene Gäste in die Runde aufgenommen. Wir sangen unsere Lieder, aber auch Lieder zum Mitsingen. Zwischendurch traten Rolf und Numa als Solisten auf und sangen lustige Schwänke. Dafür durften wir essen und trinken soviel wir wollten. Natürlich ließen wir auch diskret die Frage nach einem Nachtquartier anklingen und bekamen zur Antwort „Dat wird jeregelt, wenn wir hier fertig sind. Jetzt singt erst noch e paar Liedcher“. So verging schnell die Zeit und es war weit nach Mitternacht als der Wirt Feierabend bot. Unter lautem Getöse zogen wir durch das schlafende Emmelshausen, um unter Führung unserer neuen Freunde zu unserem Nachtquartier zu gelangen. Die nächtliche Tour endete vor einer Gendarmerie Station. Der wachhabende Gendarm war eingeschlafen und wurde von unsren Freunden mit den Worten geweckt „Jupp, mir henn Gäst fer Dich“. Der schlaftrunkene Gendarm war keineswegs begeistert und wollte uns alle rausschmeißen. Aber da stellte sich heraus, das die feiernde Runde aus Postbeamten bestand, die am dienstfreien ersten Januar eine Betriebsfeier veranstaltet hatten, in die wir hineingeplatzt waren. Nun war von Amtshilfe unter Beamten die Rede. Dem konnte der Gendarm nichts entgegensetzen. Man kannte sich zu gut. Also schloss er umständlich und mürrisch das ihm unterstehende Obdachlosenasyl auf. Wir verabschiedeten uns von den gastlichen Postbeamten. Dann schlossen sich hinter uns die Stahltüren des Asyls. Wir waren fasziniert, man beherbergte uns also in Räumen, die für echte Landstreicher und fahrende Gesellen vorgesehen waren. Wir fühlten uns den Helden nahe, die wir in unseren Liedern so oft besangen. Unsere nassen Sachen, die wir überall zum Trocknen aufgehängt hatten, waren der Ausdruck dieses Heldentums. An Schlaf war nicht zu denken. Dazu waren wir viel zu aufgekratzt. Spontan begannen wir wieder Lieder zu singen, die unsere Situation verherrlichten. „In dem dunklen Wald von Paganowo lebte einst ein wilder Räubersmann…“.

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Stamm Schinderhannes                                  

Silvester 1959: Gerd, Rolf, Günther, Tatt, Numa und Dieter mit Bruno in der Mitte vor dem Säulenhaus des Nerother Wandervogels.

Da erwähnte plötzlich einer den Räuberhauptmann Schinderhannes, der einst mit seinen Gesellen im nahen Simmern eingesessen hatte. Obwohl das natürlich übertrieben war, gefiel uns der Vergleich mit unserer jetzigen Haft in Emmelshausen. Die Erlebnisse der letzten Tage zogen an uns vorüber. Wir fühlten uns zwar nicht als Räuber aber als Ausgestoßene und Rebellen, die bei den Bonzen der ABW abgeblitzt waren aber bei dem kleinen Mann für fröhliches Singen Unterschlupf gefunden hatten. In unsrer jugendlichen Fantasie sahen wir viele Parallelen zwischen unsrer Clochardgruppe und den Gesellen des Schinderhannes. In dieser Nacht im Obdachlosenasyl in Emmelshausen kamen wir zu der Erkenntnis, dass der Name unsres Stammes „Königsadler“ für uns keine Identität stiftende Ausstrahlung mehr hatte. Sollten wir aus dem BDP austreten und uns den Nerothern anschließen? Soweit wollten wir nicht gehen. Wir beschlossen, im BDP zu bleiben und die bündischen Strömungen in diesem Bund nach Kräften zu unterstützen. Wir nahmen uns vor, ein Zeichen zu setzen und unsren Stamm innerhalb des BDP bei nächster Gelegenheit in „Schinderhannes” umzutaufen. So ist es dann gekommen. Als Numa auf einem Thing im Frühjahr 1960 die Führung des Stammes übernahm, wurde gleichzeitig der Beschluss gefasst, die zur Umbenennung des Stammes notwendigen Formalien durchzuführen. Die Einladung zur Teilnahme an der am 10. September 1960 vorgesehenen Grundsteinlegung für das Fritz-Emmel-Haus ging bereits an den Stamm Schinderhannes.

Fritz Krupp (Tatt)